Dumme Ignoranz

Anfang 2004 lernte ich einen Mann in meinem Alter kennen, der mich – zugeben – sofort in seinen Bann zog; für ihn hätte ich so ziemlich Alles getan. Er sah nicht nur unverschämt gut aus, wir teilten zudem das Hobby Tanzen und schienen auch sonst wie füreinander geboren. Sein Beruf: Arzt, sein Wesen: nicht alltagstauglich.

Nun möchte man meinen, dass gerade Menschen, die einen sozialen Beruf gewählt haben, noch dazu eine Menge Zeit und Geld investieren um die Spitze zu erreichen, jemanden wie mich (in Bezug auf Daddy) eigentlich am ehesten und besten verstehen müssten. Eigentlich…

Es gab einige Situationen in unserer (kurzen) Beziehung, in denen ich dachte: Typisch Studierter! und: Jetzt wirfst du ihn über den Balkon – scheiß drauf, ob darauf Knast steht oder nicht!

Doch diese Eine hat sich auf Lebzeit bei mir eingebrannt, Frühsommer 2004:

Mein Freund damals, nennen wir ihn Andreas, bekam natürlich so Manches mit und meinte dann irgendwann mal (so in etwa): „Wie du das immer alles meisterst, das Chaos, das oft durch dein Leben gezogen ist und immer noch ein wenig da ist… Normalerweise müsstest du Borderliner oder chronisch depressiv sein, bewundernswert, dass es nie soweit gekommen ist.“

Ich erwiderte in meinem schier unerschöpflichen Optimismus, völlig unbedarft, das Herz mal wieder auf der Zunge: „Das ist alles noch gar nichts! Wenn wirklich mal Hektik und Panik in meinem Leben ausbricht, würdest du sicher nicht mehr leben wollen und dir ’nen Strick nehmen.“

In seiner, ihm ganz eigenen studierten-schlauen Art, mit unnachahmlichen Gepose brachte der Herr dann den Text schlechthin (so in etwa wieder gegeben, seine gesamte Art ist – Gott sei dank – einmalig):

„Ach, mit Suizid habe ich keine Probleme. Ich sehe so gut wie jeden Tag Menschen sterben, ich habe keine Angst vor dem Tod. Diese Option halte ich mir ohnehin immer offen, wenn es mit mir mal nicht mehr so rosig aussieht. Und was Selbstmord von Borderlinern oder Depressiven angeht, um solche Menschen ist es nicht wirklich schade. Man muss ja bedenken, dass solche Leute nur den Sozialkassen auf der Tasche liegen. Überleg mal: von deinem Lohn gehen verschiedene Abgaben weg, davon zahlst auch du die Behandlung von solchen Leuten! Also ist es doch sinnvoller, besser, die machen ihrem Leben ein Ende, statt dass Andere dafür zahlen müssen.“

In diesem Moment entgleisten mir jegliche Gesichtzüge, was sollte das?? Hatte der sie noch Alle?

Ich sah ihn nur an, unfähig auch nur das Geringste zu sagen oder denken. Als ich mich wieder gefangen hatte, meinte ich: „Du weißt aber schon noch, was ich dir von meinem Papa…“ weiter kam ich nicht, denn nun versucht sich der Herr in seiner ganz speziellen Art heraus zu reden: das sei doch was ganz anderes, könne man gar nicht vergleichen *blablabla*. Als er es dann endlich zu merken schien, was er von sich gegeben hatte, wurde er richtig kleinlaut und verstummte – mir kamen die Tränen.

Ich ließ ihn stehen, ging auf dem Balkon – die Schachtel Zigaretten im Anschlag – setzte mich in die Sonne und ließ den Tränen freien Lauf. Die Nikotinzüge wurden zunehmend tiefer. Auf einmal stand er neben mir und wollte mich entschuldigenderweise zutexten: er habe es nicht so gemeint, er habe sich falsch ausgedrückt, ICH hätte es falsch verstanden… blablabla – ich beachtete ihn nicht, sah stur, wie gelähmt, vor mich hin, die Tränen liefen einfach.

Irgendwann, ‚Andreas‘ schien mit seinem Entschuldigen gar nicht mehr aufhören zu wollen, meinte ich mit leiser, tränenerstickter Stimme: „Lass mich jetzt in Ruhe! Du hast für´s Erste genug Müll von dir gegeben, Herr Doktor! Lass mich jetzt hier allein und in Ruhe sitzen, dann beruhig ich mich schon wieder. DU hast jetzt Sendepause!“ Er trottete wieder ab; für ihn war es unerklärlich, was er jetzt „schon wieder“ falsch gemacht haben sollte, er hatte sich doch schließlich entschuldigt.

Als ich nach einer halben Stunde immer noch nicht runter gefahren war, sprich: zu ihm in die Wohnung kam, erschien er erneut auf meiner Bildfläche, diesmal patzig-genervt: „Sollen wir so jetzt weiter machen? Wie lange willst du noch vor dich hin schmollen? Jeder Mensch macht mal Fehler, wir können alles auch gleich ganz sein lassen!“ Und baute sich mit verschränkten Armen vor mir auf.

Jeder Mensch macht mal Fehler. war Andreas‘ Lieblingssatz; seine Art von Erledigung einer Sache, um seine zahlreich abgelegten Schwachmaten-Aktionen zu rechtfertigen. „…wir können alles auch gleich ganz sein lassen!“ Emotionale Erpressung? Zieht bei mir schon lange nicht mehr.

So wichtig kann kein Mann/keine Frau sein, dass man sich runter drücken lassen muss.

Wer meint, gehen zu wollen oder müssen, soll gehen: Jede/r weiß, wie eine Tür aussieht und welchen Zweck sie erfüllt.

Ich reagierte nicht, er verschwand wieder. Nach ca. einer weiteren halben Stunde ging ich rein, ich ignorierte seine Anwesenheit – das machte ihn rasend. Er würde es ausschweifend abstreiten, doch wenn er eines nicht ertragen konnte, war es nicht beachtet, nicht für voll genommen zu werden – er ist schließlich studiert! *gähn*

Als er dann so richtig schön in Fahrt war, baute ich mich erstaunlich gefasst vor ihm auf und sagte gefährlich ruhig und leise (keine Ahnung, woher ich die Kraft nahm oder bekam): „Wer sein ach so schlaues Wissen und die Wahnsinns-Erlebnisse nur aus Lehrbüchern oder von Erzählungen her kennt, sollte sich mit jeglichen Äußerungen diesbezüglich stark zurück halten. Du weißt nicht im Geringsten wovon du da gerade gesprochen hast oder wie es Menschen geht, die so etwas durch machen mussten – wie es mir geht! Ich will mich nicht dahinter verstecken, doch ich habe ein verdammtes Recht auf Rücksicht! Also halte dich in Zukunft mit deinen Studierten-Texten zurück, wenn du keine Ahnung hast – und davon hast du reichlich! Ich würde meine Gehälter der nächsten Jahrzehnte geben, würde es mir meinen Vater zurück bringen. Dumm geboren, dann studiert und trotzdem nichts dazu gelernt!“ Darauf fiel ihm nichts mehr ein. Tja, echt ärgerlich was? Da studiert man jahrelang und was hat man davon? Einen doch höchst eingeschränkten Horizont.

Für mich war diese Sache damit erledigt – ich verzieh ihm; doch vergessen konnte ich es nie.

Die Trennung von ihm kostete mich einiges an Herzblut, doch im Vergleich zum Verlust von Daddy war dies Kindergeburtstag. Es überschritt seine persönlichen Kompetenzen eine adäquate Beziehung mit einer Nicht-Seinesgleichen zu führen, welche ihm intellektuell dennoch das Wasser abgrub“ – Ja, so kann man es natürlich auch umschreiben, wenn man einem normalen Menschen nicht gewachsen ist.

Was ich euch damit versuche zu sagen:

Kommt euch einer mit Klugscheißer-Diplom quer in den Weg, habt den Mut und die Kraft euch gerade hin zu stellen! Egal wer, egal wann, egal wie: Keiner hat das Recht auf euch herum zu trampeln und / oder euch mit emotionaler Erpressung klein zu halten! Lasst euch von Niemanden erklären was Richtig oder Falsch ist, wie ihr euch fühlt oder nicht fühlt. Das Einzige was zählt, seid ihr und sind eure Gefühle!!  (21.04.2006)

Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man auch durch den Tod nicht verlieren.


Nachtrag, 22.04.2006:

Ich habe heute einen sehr schönen Spruch gefunden, den ich ‚Andreas‘ (wo immer er auch sein mag) gerne auf seinen „effizienteren“ Weg nachschicken möchte – und euch, liebe Freunde, soll er ein weiteres Mal auf die Beine helfen:

Es ist wichtiger, dass sich jemand über eine Rosenblüte freut,
als dass er ihre Wurzel unter das Mikroskop bringt.

(Oscar Wilde)