Um euch diesen Tag wirklich begreiflich zu machen, muss ich ein klein wenig ausholen:
Helmut und ich haben uns sehr oft über alles mögliche unterhalten, auch darüber, was manche Menschen wohl dazu bewegen mag, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Wir sinnierten darüber, dass es sich zum Großteil um sehr verzweifelte, sich einsam und ungeliebt gefühlte Leute handeln musste. Dad gab zu, dass er in der Vergangenheit oft daran gedacht hatte, aber nun habe er ja uns: seine Familie, die er liebt und die ihn liebte.
In unseren Gesprächen ging es natürlich auch um die verschiedenen Möglichkeiten, sein Leben weg zu werfen und Helmut meinte, wenn er jemals so verzweifelt wäre, dass ihm dies der einzige Ausweg zu sein schien, er würde niemals andere Menschen mit rein ziehen.
Am Montag, den 05. Juli 1993 hatte ich gerade wieder den ersten Tag einer neuen Blockschulwoche.
Viele der Schüler kamen zu spät und ich schnappte Sätze wie „Da hat sich irgendso ein Typ, so ein Idiot vor den Zug geworfen…“, „So ein Arschloch, hätte der sich nicht eine andere Zeit, einen anderen Zug, eine andere Art aussuchen können?!“, „…. wegen so einem Penner komm ich auch noch zu spät…“ auf.
Ich saß, auf den Unterrichtsbeginn wartend, vor dem Klassenzimmer, dachte an meine Gespräche mit Dad und fragte mich, was muss das für ein armer, einsamer Mensch gewesen sein? Ich wollte gleich am Nachmittag mit ihm darüber reden.
Als ich später nachhause kam (ich wohnte mit meinem damaligen Freund bereits zusammen), hatte ich kaum die Tür hinter mir geschlossen, als das Telefon ging: Mutti!
Sie erzählte mir mit relativ gefasster Stimme, was passiert war: der Idiot, das Arschloch, der Penner, der sich keine andere Zeit, keinen anderen Zug, keine andere Art ausgesucht hatte war mein Vater!!!
Als mir das bewusst wurde – soweit man es so beschreiben kann – lief alles wie robotermäßig ab: Mutti und ich besprachen, wer was als nächstes erledigte, wer wen als nächstes benachrichtigte etc. Mein erster Anruf danach galt meinem Freund in der Arbeit. Ich bat ihn, nach Feierabend gleich heim zu kommen, Mum müsste die Austausch-Franzosen abholen – das war seit Wochen geplant und wir bzw. ich hatte die Aufgabe übernommen, ihre Wohnung gastfreundlich vorzubereiten.
Als nächstes ging ich zu unserer damaligen Nachbarin. Ich hatte seit gut neun Monaten keine Zigarette mehr angelangt, nun brauchte ich eine und einen kleinen Schnaps am besten gleich dazu.
Die Nachbarin war mir oft sehr suspekt – sie wusste ganz genau, wie sie wen „behandeln“ musste, um ihren Willen zu bekommen, aber das war mir in diesem Moment so was von egal – ich brauchte Nikotin!! Und ich musste reden!!
Anfangs war sie ja noch sehr verständnisvoll und versuchte mich – wenigstens ansatzweise – zu trösten, aber nach ca. einer halben Stunde brachte sie den Spruch überhaupt, zeigte ihr wahres Gesicht, das ich schon lange vermutete: ich solle mich doch jetzt langsam aber sicher wieder beruhigen, ich könne ja sowieso nichts mehr ändern. Helmut sei tot und daran würde die ganze „Heulerei“ nichts ändern. BITTE WAS????
Diese Schl…. hatte meinen Vater gerade mal 15 Minuten bei unserem Einzug (beim Teppich verlegen) gesehen und wollte mir nach fast 5 Jahren erklären, ich soll mich nicht so anstellen???!!!
Nicht traurig sein, dass es gewesen – sondern glücklich, dass es war.
Zum Glück kam wenige Augenblicke später mein Freund von der Arbeit – er hatte es nicht mehr ausgehalten.
Ganz im Gegensatz zu meinem STIEFonkel: dieser „konnte die nächsten Stunden nicht von der Arbeit weg, er habe noch einen wichtigen Kunden“. Meine STIEFtante meinte sogar – als Mutti sie anrief, um die traurige Nachricht zu überbringen: „Was ist denn jetzt schon wieder mit Helmut?! Kriegt man vor dem denn nie Ruhe?!“ Das dunkle „Geheimnis“, das diese Beiden haben, wird sich früher oder später mit voller Wucht offenbaren. *i c h k a n n w a r t e n*
Mein erster Weg führte zum Doc: der Tod meiner Oma vier Wochen zuvor war noch zu verkraften, weil wir damit seit Monaten hatten rechnen müssen, aber in der „Masse“ gesehen war es mir nun doch zuviel – und an U- oder S-Bahn fahren war ohnehin nicht zu denken.
Ich hoffte so sehr, dass dies alles nur ein dummer, beschissener Traum war und der Wecker bald ginge, doch er klingelte nicht.
Mein Freund und ich bereiteten die Gästebetten vor, stellten eine Kleinigkeit zum Essen zusammen und verließen dann wieder die Wohnung; in unserer Familie hatte jeder vom anderen einen Hausschlüssel.
Irgendwie war Alles wie immer und doch war Alles anders.
Was mich aber bei der ganzen Sache wirklich wütend macht: Daddy hatte „versprochen“, dass wenn er es machen würden, er niemandem mit rein ziehen würde … und was war mit dem Schaffner, der ein gutes halbes Jahr nicht fahren konnte? Was war mit all den Passagieren? Und: was war mit uns????
Er wählte einen Ort, an dem wir im Sommer immer zum baden gingen, an dem wir glücklich waren – die Gleise sind nur durch Gebüsch vom See (von „unserem“ Platz!) getrennt.
Das nehm‘ ich ihm wirklich übel und ich werde ihn dafür zur Rede stellen! Wir sehen uns wieder – 100pro! Und dann, Daddy … Dann, gnade dir wer auch immer!
Am schmerzhaftesten sind die Jahrestage, die genau auf das Datum fallen: Montag, der 05. Juli.
Bis eine Woche vor dem Datum geht’s gerade so, doch die Wochen und Monate danach sind furchtbar; es ist, als durchlebt man alles noch einmal: jeden Tag, jede Stunde, jede Minute … Jeden Augenblick.